Judith Jenner
Autofreie Stadt: Effizienz und Raumgewinn
Mehr als 23 Stunden steht ein Auto im Schnitt unbewegt auf seinem Parkplatz, blockiert wertvollen Stadtraum, in dem Nachbar:innen in der Sonne sitzen oder Kinder Ball spielen könnten. Im Hinblick auf die Flächeneffizienz steht ein Fahrrad elfmal so gut da wie ein PKW. Zugleich kostet der Ausbau von Straßen und Autobahnen ein Vielfaches an Steuergeldern verglichen mit Radwegen.
Es sind Fakten wie diese, die die wissenschaftlich-kreative „Allianz der freien Straßen“ 2023 im „Manifest der freien Straße“ zusammengetragen hat. Dahinter stecken die Berliner Denkfabrik Paper Planes, die Forschungsgruppe digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung vom Wissenschaftszentrum Berlin sowie das Fachgebiet Arbeit, Technik und Partizipation der Technischen Universität Berlin. Sie haben mehr als sechs Monate lang Fachartikel, Studien, Statistiken und Best-Practice-Beispiele ausgewertet, um alle skizzierten Visionen wissenschaftlich zu unterfüttern.
Freie Straße statt Lärm und Stau
„Unser Ziel war es, die Verkehrswende nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu bebildern“, erklärt der leitende Autor Simon Wöhr von Paper Planes in Anspielung auf die lebendigen Visualisierungen einer autofreien Innenstadt, die sein Team erstellt hat. In Videos zeigt es, wie zum Beispiel die August-Bebel-Straße in Halle an der Saale komplett ohne Autos aussehen könnte. „Auf diese Weise möchten wir kontinuierlich die kreative Vorstellungskraft der Menschen anregen“, sagt Mathilde Kærgaard Skaaning, zuständig für die Kampagnenarbeit der Allianz.
Lebendige Nachbarschaft
Es geht in den sieben Thesen des „Manifests der freien Straße“ aber nicht nur um Verkehr, sondern auch um Beteiligung, Politik, Gesundheit und Nachbarschaft. So steigert eine gute Nachbarschaft, die durch neue Begegnungsmöglichkeiten im Freien in einer autofreien Stadt gefördert wird, nachgewiesenermaßen die Sicherheit und die Gesundheit der Menschen. Autofreie Städte und Einkaufsstraßen können den Einzelhandel und die Gastronomie, wie beispielsweise Gottfried's Feinkiosk, in Innenstädten attraktiver machen. Zugleich kommen Warentransporte und Rettungsdienste besser durch den Straßenverkehr, wenn weniger private PKW unterwegs sind und die Menschen stattdessen das Fahrrad, das Lastenrad oder Busse und Bahnen nutzen.
Ideen für die Praxis
Autofreie Städte, so präzisiert es Mathilde Kærgaard Skaaning, seien daher nicht das Ziel. Sie benutzt lieber den Begriff „autoarm“. „Das Manifest ist im Grunde eine Aufforderung eines Kulturwandels, bei dem wir nicht mehr die Autos in den Vordergrund stellen, wenn wir Städte gestalten, sondern Menschen und Natur“, sagt sie.
Die Arbeit von Paper Planes beschränkt sich aber nicht nur auf die Theorie. Als Kooperationspartner des Berliner Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg hat die Denkfabrik unter anderem die Bürgerbeteiligung für die „zukunftsgerechte Transformation des öffentlichen Raums des Berliner Graefekiez“ übernommen. Dort ist die Veränderung bereits spürbar. Ein Teil der Parkplätze wurde in Beete verwandelt, die Anwohner:innen gemeinsam bepflanzt haben.
Inspirationen für Planende
In Ausstellungen, Podiumsdiskussionen und Workshops verbreiten die Mitglieder der Allianz der freien Straßen ihre Visionen. Knapp 5.000 Menschen und Institutionen haben das Manifest der freien Straße bereits unterzeichnet. Die zweite Auflage ist in Arbeit. Zudem wurde es an fast alle deutschen Kommunen verschickt, um Politiker:innen und Stadtplaner:innen zu mutigeren Lösungen zu inspirieren. „Ob wir einen direkten Einfluss auf der Verkehrsplanung haben, lässt sich natürlich schwer sagen“, räumt Mathilde Kærgaard Skaaning ein. „Man sieht aber, dass in mehr und mehr Innenstädten Menschen und Natur wieder stärker gefördert werden.“
Hannovers neues Mobilitätskonzept
Das zeigt sich zum Beispiel in Hannover. Im September 2023 stellte Oberbürgermeister Belit Onay erstmals konkrete Pläne für eine weitgehend autofreie Innenstadt vor. Bis 2030 soll laut dem Mobilitätskonzept Innenstadt der private Verkehr weitgehend aus der City verschwinden. Autofahrer:innen, die nicht auf ihr Fahrzeug verzichten können, stellen es in Parkhäusern ab. Fahrräder werden in der Planung einer autofreien Stadt stärker als bisher berücksichtigt, auch um die CO₂-Emissionen zu senken.
Oberste Priorität hat für die Planenden allerdings die Fortbewegung zu Fuß. Menschen sollen entspannt durch die Straßen der autofreien Stadt schlendern können, ohne durch Lärm und Abgase gestört zu werden oder Slalom um parkende Wagen laufen zu müssen. Nicht allen gefällt das. Kritiker:innen befürchten, dass die Kapazitäten der Parkhäuser nicht ausreichen und halten das vorgelegte Konzept für noch nicht ausgereift.
Autofreie Städte gestalten
Doch es muss nicht immer eine ganze Innenstadt sein. Die Verkehrswende kann auch im Kleinen beginnen, zum Beispiel durch autofreie Zonen in ausgewählten Stadtteilen, bessere Radwege oder -parkmöglichkeiten.
Für solche und ähnliche Anliegen kannst du dich starkmachen, indem du zum Beispiel eine Petition und ein Bürgerbegehren startest. Sprich mit den Verkehrspolitiker:innen deiner Stadt oder deines Stadtteils über deine Ideen, und suche Kontakt zu Gleichgesinnten in der Nachbarschaft. Solche Vorschläge „von unten“ gewinnen laut Wissenschaftler:innen in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung für Veränderungen in Städten. Die Chancen stehen also gut, dass auch du etwas für deine Nachbarschaft erreichen kannst.
Bildquelle: (c) paper planes e.V.