zukunftswaende
Ein Zuhause wie aus dem Lehrbuch
Es ist kurz vor Zehn. Viele Schüler können bereits in der ersten großen Pause den Schulschluss kaum erwarten. Aber Isabelle und Damjen wollen nicht nach Hause gehen – weil sie bereits zu Hause sind. Die Schulglocke läutet hier heute nur noch, wenn die Post kommt. Seit einem Jahr gibt es in der alten Grundschule in Beckedorf das Pausenbrot zum Frühstück.
Tischlerin Isabelle und Steinmetz Damjen sind leidenschaftliche Handwerker und wahre Macher – trotz großer Angst haben sie Anlauf genommen und sind zusammen mit Sohn Haite gesprungen. In ein neues Leben. Und vor einem Jahr auch in die alte Badewanne, die Isabelle vor 20 Jahren auf der Straße gefunden und nicht mehr weggegeben hat. Jetzt haben sie das passende Haus zur Wanne gefunden.
Dass es so groß wird, haben sie nicht erwartet. In Eigenregie hat das Paar das circa 700-800 qm große Gebäude aus den 60er Jahren umgebaut. Heute bewohnt die Familie davon nur ein knappes Viertel. Die alte Grundschule ist dreigeteilt: rechts das Wohnhaus, links Damjens Steinmetzwerkstatt und in der Mitte das Treppenhaus mit dunklem Steinboden, rotgestrichenem Geländer, abgehenden Fluren und Zugang zum 140 qm großen Keller, in dem sich auch Isabelles Tischlerwerkstatt befindet.
Ob man sich hier nachts verläuft? „Man braucht schon so seine zwei, drei Runden, bis man das Haus verstanden hat. Inzwischen kennen wir hier jeden Quadratzentimeter“, sagt Isabelle. Vor der Haustür liegt der alte Schulhof. Dort, wo bis zur Schließung der Grundschule Beckedorf im Jahre 2014 im Schnitt rund 140 Kinder spielten, stehen nun ein Gabelstapler und Steinskulpturen auf provisorischen Sockeln, die auf den Eingang zur Steinmetzwerkstatt weisen. „Hier hat der Tag zu wenig Stunden“, für Künstler Damjen können Ideen gar nicht genug Raum bekommen.
Große Pause im eigenen Zuhause
Die Schule ist für Isabelle und Damjen längst aus. Warum sind die beiden dann wieder eingezogen? Ein dreiviertel Jahr hatte das Paar Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Den Schlüssel hatten sie bereits in der Hosentasche, um ab und zu vorbeischauen zu können und langsam aber sicher ein Gefühl zum Haus aufzubauen. Isabelle kann nur von Glück reden: „Wir hatten es nicht eilig. Es war kein: Entscheidet euch morgen, sonst ist die Hütte weg!“ Die Hütte hat auf die Familie gewartet. Mitbewerber gab es auch – aber nachdem das Paar seine Projektidee dem Dorfrat vorstellte, konnte mit dem Kauf im Juni 2017 auch mit der Konzeptumsetzung begonnen werden. Aber kann aus der alten Grundschule ein wirkliches Zuhause werden? „Spätestens, wenn wir die Fassade neu gemacht haben, ist es nicht mehr unbedingt zu erkennen, dass wir in einer alten Schule wohnen. Und dann fühlt es sich auch nicht mehr so an“, denkt Isabelle. Wie genau es sich anfühlt, in einer alten Grundschule zu wohnen und warum man die Angst vorm Machen verlieren sollte, erzählen uns Isabelle und Damjen im Interview:
Das eigene Zuhause-Gefühl ist etwas sehr Individuelles. Was bedeutet „Zuhause“ für dich?
Isabelle: Es fällt mir schwer zu sagen, ob Zuhause ein Ort ist, der sich in Gegenständen oder Menschen wiederfindet. Ich weiß nur, Zuhause ist ein Ort der Sicherheit. Wo man denkt: Hier fühle ich mich wohl. Hier kann ich auch sein, wenn ich mich zurückziehen will. Wo mich keiner stört. Wo wenig Unruhe von draußen nach drinnen kommt. Wo ich ich selbst sein kann. Mein Zuhause-Gefühl ist also nicht zwingend an Räumlichkeiten gebunden. Natürlich bedeutet Zuhause auch, mit meiner Familie zusammen zu sein. Hier wächst alles immer mehr zu einem großen Ganzen. Auch unser Hund gehört dazu und Katzen, von denen ich schon immer umgeben war. Ein Haus hat seinen Eigengeruch – also man riecht sein Zuhause. Aber Zuhause heißt für mich, dass man irgendwann überall ist. Und dass die Waschmaschine schon einmal lief und die Wäsche schon einmal hing und dass das Bad schon einmal vollgedampft war. Erst dann fühlt es sich nach Zuhause an – erst dann ist es vielleicht das Zuhause, von dem man spricht.
Wenn ich an Zuhause denke … Also da muss schon ein Bett stehen und eigentlich auch eine Küche. Ich habe das Gefühl, man muss einmal gekocht haben, dann ist es ein Zuhause.
Damjen: Zuhause hat für mich nichts mit dem Gebäude zu tun, in dem man sich befindet – es ist ein Gefühl. Und das Gefühl entsteht durch mich selbst. Ich schaffe mir mein Zuhause, egal wo ich bin. Und dann ist es eben das Haus oder die Werkstatt, die ich brauche. Oder das Kinderzimmer, die Familie. Dass mein Sohn ein eigenes Dach über dem Kopf hat. Am Ende ist das das wirkliche Gefühl vom eigenen Zuhause. Wenn alles, was ich brauche, die bloße Freiheit zu leben ist, kann ich mich auch in einem Zelt oder Zirkuswagen zu Hause fühlen.
Dieses Gebäude hier ist ganz eng damit verbunden, arbeiten zu können. Und mit dem Wunsch, Dinge entstehen zu lassen, zu kreieren.
Was war zuerst da: der Traum oder der Raum?
Träume bekommen einen Raum, um Wirklichkeit zu werden. Und dann? Was war zuerst da: Der Traum oder der Raum?
Damjen: Das, wovon man träumt, kann man auf viele Weisen realisieren. Fest steht: Der Raum bringt die Vision mit sich und die versucht man dann zu realisieren. Dieses Gebäude hat uns dazu inspiriert, Leben und Arbeiten unter ein Dach zu bringen. Dann kam die Vision – und aus ihr sind die Werkstätten entstanden. Es passt zu unserer Idee, das gemeinsame Leben zu gestalten. Und zu finanzieren. Wir leben ja von dem, was wir hier machen. Und wenn der Tag kommt, an dem ich das Gefühl habe, mein Lebensmodell ändern zu wollen, weil ich denke: All das hier stresst mich viel zu doll und ich bin nicht mehr glücklich damit, dann ist der Ort, an dem ich lebe auch nicht mehr zwingend mein Zuhause. Dann ist es Zeit, etwas zu verändern. Und dann passe ich mein Zuhause meinem neuen Bedürfnis an.
Leben und Arbeiten an einem Ort. Man könnte meinen, das geht auch kleiner. Warum braucht ihr so viel Platz, um euch selbst zu verwirklichen?
Isabelle: Uns hat eine Mischung aus Zufall, Glück und der Lust auf das Besondere hierher gebracht. Wir brauchen viel Raum, weil wir gerne Dinge schaffen. Und das am besten so nah dran wie möglich. Nachdem unser Sohn geboren wurde, bin ich knapp ein halbes Jahr nicht in meiner damaligen Werkstatt gewesen. Ich hätte lange hinfahren müssen. Und jetzt kann ich einfach abends runtergehen, wenn ich am Tag zu nichts gekommen bin. Einer der Gründe, warum ich das Haus so toll finde – Leben und Arbeiten an einem Ort – bringt natürlich auch Schwierigkeiten mit sich: Wann hört man auf zu arbeiten?
Wer viel arbeitet, muss sich auch mal zurücklehnen und durchatmen. Hast du schon einen Lieblingsplatz in deinem neuen Zuhause gefunden?
Isabelle: Noch nicht so richtig … Aber ich liebe meine neue Werkstatt. Das ist mehr als Arbeit – da bin ich einfach gerne. Da pfuscht keiner rum und außer dem Kleinen rennt auch niemand ungefragt rein. Es ist Meins. Das meine ich nicht rein materiell, dieses ‚Meins‘. Eher dass es durch mich und mein Gefühl entstanden ist. Aber wenn man sich den Wohnraum teilt, muss kommuniziert werden. Stellen wir den Stuhl dahin oder nicht? Wenn ich hier alleine wohnen würde, könnte ich mich auch im Wohnzimmer komplett frei entfalten. Vielleicht würde ich einige Dinge anders machen, aber das geht nicht immer. Weil Damjen es nicht möchte oder es mit unserem Sohn nicht funktioniert oder weil der Hund es frisst. Also macht man lauter Kompromisse und denkt sich abends im Bett: ‚Na super – ist das alles so, wie ich das will?‘ Aber so ist es: Sobald man mit anderen zusammenlebt, wird das Zuhause durch sie mitgestaltet. Und das ist auch gut so.
In der Schule fürs Leben lernen
https://www.youtube.com/watch?v=flFrOERC2pw&rel=0
Der helle Wohnraum bietet trotz seiner 137 qm aufgrund seiner offenen Architektur wenig Rückzugsmöglichkeiten – aber die alte Grundschule hat unzählige andere Ecken und Enden, an denen man ungestört die Seele baumeln lassen kann. Genug Raum für jeden sei ihnen bei der Kaufentscheidung am wichtigsten gewesen, meint Isabelle. Selbst entscheiden zu können, wie man leben will, ist wertvoll, findet Isabelle: „Hier schmeißt uns keiner raus. Hier müssen wir nicht wegen jeder Kleinigkeit zum Vermieter rennen. Wir können einfach machen und umsetzen!“ Unabhängigkeit ist einer der größten Vorteile von Eigentum. Man müsse es eben wirklich wollen und fähig sein, Prioritäten zu setzen, findet Damjen: „Das hat viel mit Idealismus zu tun. Oder einfach nur Bock. Die Vision entsteht ja mit dem Gebäude. Und wenn es eben ein Haus sein muss, das beispielsweise seit 300 Jahren steht und in den Augen anderer vielleicht sogar totaler Schrott ist, dann investiere ich neben viel Geld vor allem mein Herzblut in das Gebäude und sage: 'Ich will, dass das erhalten bleibt!' Aus einer Vision die eigene Realität zu machen, trauen sich nur wenige. Dabei ist es dafür niemals zu spät. Trotzdem wollte Isabelle keine Zeit mehr verlieren und versehentlich das Ablaufdatum ihrer Träume übersehen."
Irgendwann denkt man sich: Warum ist immer alles irgendwann? Irgendwann will man nicht mehr warten, sondern machen!
Wie traut man sich ein derart großes Projekt zu? Was gibt einem den Mut, einfach zu machen?
Isabelle: Tatsächlich gehört schlichtweg auch eine gewisse Erfahrung dazu. Das hier ist nicht das erste Objekt, das ich saniert habe. Natürlich bin ich kein Profi und in irgendeiner Baufirma tätig, aber ich bin schon handwerklich bewandert. Es ist mir nicht fremd. Ich habe keine Angst davor, eine Wand rauszureißen. Im Gegenteil: Ich find’s toll!
Natürlich braucht man eine stabile Beziehung und auch ein verlässliches, finanzielles Polster, um diese riesenhaften Bauvorhaben zu realisieren, aber es sei mindestens genauso wichtig, Hilfe annehmen zu können. Menschen hinter sich stehen zu haben, die vieles zugegeben einfach besser wissen als man selbst. Bauexperten, die den Wohnraum energetisch dämmen, neue Fliesen verlegen und eine Fußbodenheizung installieren. Eine Bank, die individuelle und realistische Finanzierungspläne schmiedet und mindestens genauso interessiert war am Bauprojekt wie die Käufer selbst. Menschen, die einem zwischen Schutt und Asche nicht noch weitere Steine in den Weg rollen. Den Baustaub mit Vertrauen lichten. „Da war eigentlich niemand da, der gesagt hat: ‚Naja, seid ihr noch ganz dicht?‘ Sodass man sich in Zweifeln verloren hätte. Unsere Familie und Freunde waren begeistert. „Aber ich ärgere mich natürlich, dass ich das nicht ein bisschen früher gemacht habe. Dann hätte ich es früher abbezahlt und länger genießen können. Ich würde es gut finden, wenn man jüngeren Leuten die Angst nimmt und Zuversicht gibt. Denn das hier ist nichts anderes als cool!
Heute sind die Hürden, Wohnträume Wirklichkeit werden zu lassen, auch für junge Leute niedriger gesetzt: Doch wie stärkt man jungen Menschen den Rücken, damit sie sich Eigentum zutrauen?
Isabelle: Jetzt bin ich erwachsen und so selbstbewusst zu sagen: ‚Ja, klar kaufe ich ein Haus. Das kriegen wir schon alles hin!‘ Dazu kommt meine handwerkliche Erfahrung und ein guter finanzieller Background. Aber natürlich war ich mit Anfang 20 auch unsicher. Wenn mich jemand mehr gepusht, mich da an die Hand genommen und gesagt hätte: ‚Ey komm, du schaffst das!‘ Letztendlich ist auch alles gut so, wie es gekommen ist – etwas anderes hätte ich vielleicht auch gar nicht gewollt oder gefunden. Ich denke immer: Das Schicksal macht es schon so, wie es sein soll. Aber man braucht wirklich keine Angst haben! Ich sehe das hier im Umkreis auch bei vielen jungen Familien – auf dem Land sind Mietshäuser und -wohnungen ja eher eine Seltenheit. Die meisten haben Eigentum. Und die trauen sich das auch alle zu. Dazu muss man auch nicht zwingend handwerklich begabt sein. Also warum nicht einfach machen? Denke ich mir so.
Einfach machen – ist das wirklich leichter gesagt als getan? Isabelle und Damjen fällt es nun leichter, ja zu sagen. Jetzt, da der Raum da ist. Perspektivisch gesehen, könnten sich die beiden vorstellen, das Haus irgendwann in zwei Wohnbereiche zu spalten und die alte Grundschule mit einer anderen Familie zu teilen. Es kommt der Tag, an dem die alten Rücken die Werkstätten nicht mehr tragen können: „Vielleicht haben wir ja das Glück, jemanden zu finden, der genauso verrückt ist wie wir. Den Raum hier ähnlich nutzt und dem es die Mühe wert ist. Wir haben viele Ideen und werden sehen, was davon in Zukunft funktioniert. Diese Offenheit macht das Wohnen hier natürlich anders. Es darf ein lebendiges Haus sein. Aber es muss sich tragen – es darf uns nicht auffressen“, findet Damjen.
„Die Nummer hier ist mit Individualismus gepaart. Wir müssen das hier ableben, abwohnen, abarbeiten, weil es das ist, was uns Freude macht. Und am Ende ist es das, wofür wir es tun.“