Natalie Schaaf
Wie es wäre auf einem Hausboot zu leben
Ich öffne die Tür und atme einen Duft aus Holz und Harz ein. Überall hängen und stehen Pflanzen, die Sonne scheint durch die vielen Fenster und in der Ecke steht ein Sofa mit bunten Kissen. Ich entdecke winzige, hübsche Details und fühle mich wie in einem Instagram Post mit den Hashtags #interiordesign und #urbanjungle. Als ich mich aus meinen Winterschuhen arbeite, bewegt sich der Boden. Denn, das sollte ich an dieser Stelle erwähnen: Ich bin auf einem Hausboot. In den nächsten 24 Stunden möchte ich ein Gefühl dafür bekommen, wie es wäre, hier zu leben.
Ruheinsel inmitten der Großstadt
Nach einer halben Stunde auf dem Boot habe ich mich schon an das Schaukeln gewöhnt. Nur wenn ich aus dem Fenster schaue, ist mein Gehirn für ein paar Sekunden verwirrt, weil sich draußen alles bewegt. Momentan liegt das Boot im Tempelhofer Hafen. Es fühlt sich absurd an. Auch weil ich eben noch aus der vollen U-Bahn gestiegen und durch ein Einkaufszentrum, vorbei an eilenden, streng dreinblickenden Gesichtern, gelaufen bin. Und jetzt sitze ich in einem stillen Glaskasten voller Pflanzen und weiß gar nicht wohin mit meinem Adrenalin. Ab und zu kommt ein Schiff vorbei und das Boot wiegt sich in den Wellen. Ich höre Möwen, sehe einen Reiher.
Atelier auf Europa-Tour
Das Hausboot gehört Claudius Schulze und trägt den Namen „Die Eroberung des Unwahrscheinlichen“. Der 36-jährige Fotograf nutzt das Boot als Arbeitsplatz und schwimmendes Atelier. Mit ihm ist er schon über viele Flüsse, Kanäle und Seen geschippert. Nach Hamburg, Amsterdam, Brüssel und Paris. Sein Boot war Teil der „Triennale der Photographie“, des Kunstfestivals „Unseen“ und der Internationalen Kunstmesse „Paris Photo“.
Claudius hat das Boot 2016 selbst gebaut. Ohne nautische Vorkenntnisse. „Motiviert hat mich vor allem der Wille, mir meinen eigenen Freiraum zu schaffen. Ich habe einige Jahre zuvor ein Baumhaus gebaut. Das wurde aber von der Hamburger Hafenaufsicht nicht geduldet, weil es nicht den Bauvorschriften entsprach.“ Also suchte Claudius nach Alternativen. Er fand heraus, dass es kaum Auflagen für Hausboote gibt und man auf dem Wasser viel Gestaltungsfreiraum hat. Nach sechs Monaten des Hämmerns, Bohrens und Schweißens, ließ er das Boot mithilfe eines Krans ins Wasser. Danach konnte er mit dem Innenausbau beginnen – Stromleitungen, Verkleidung, Fußboden, Möbel.
Dass das Boot umweltfreundlich und nachhaltig ist, war ihm dabei wichtig. So besteht es zum größten Teil aus recycelten Materialien. Die Außenwand ist vom Dach eines alten Bauernhauses, auch die Fenster hatten ausgedient, sorgen nun aber auf dem Boot für Licht. Im Prinzip ist Claudius mit dem Boot autark: Strom kommt vom Dach. Dort sind drei Solarpanels befestigt, bald sollen es neun werden. Aus den Leitungen fließt gefiltertes Fluss- oder Seewasser und im Bad steht die vermutlich umweltfreundlichste Toilette, die es gibt; eine Trockentoilette. Ich bin keine Camperin. Ich war noch nie auf einem Festival. Ich hasse Dixie-Klos. Und ich bin überrascht wie ok eine Trockentoilette ist.
Ich schnappe mir das Buch „Rock the Boat“, das auf einem Stapel liegt, und mache es mir mit einem Tee gemütlich. Die Autoren schreiben, dass viele Hausbootbauer nach Wegen gegen den Klimawandel, Ressourcenverschwendung und begrenzten Wohnraum suchen. Die Zeiten seien vorbei, in denen Hausboote nur etwas für den Rand der Gesellschaft waren – entweder für die Armen oder die Superreichen. In unserer heutigen Welt aber, in der es immer schwieriger werde, sich vom ständigen Wirrwarr zurückzuziehen, bieten Hausboote einen idealen Ort der Ruhe, Naturnähe und Unabhängigkeit.
Alles da, was man braucht
Als es draußen langsam dunkel wird, kriege ich ein mulmiges Gefühl. Eine Frau, nachts, allein in einem Boot, im dunklen Hafen. Ich schließe die Tür zweimal ab, schalte Licht und Musik an. Immer wieder schaue ich zum Bootssteg.
Glücklicherweise weichen meine irrationalen Ängste irgendwann dem Hunger. Die einen essen Hühnersuppe gegen Schnupfen, ich esse eine Tomatensuppe gegen Paranoia. Ich habe sie mir extra von zu Hause mitgebracht, dabei gibt die Küche alles her, um richtig zu kochen. Ein Gasherd, sämtliche Küchenutensilien. Bisher habe ich nichts vermisst auf dem Boot. Schade nur, dass man das Leitungswasser hier nicht trinken kann, denke ich, während ich in einem schwimmenden Wohnzimmer eine Serie via WLAN streame und mein Glas später in die Spülmaschine stellen werde.
Frei, freier, Hausboot
Gegen 23 Uhr öffne ich die Tür des Boots, um kurz frische Luft zu schnappen. Ich stehe in meiner dicken Jacke im Türrahmen und schaue auf den Steg. Alles ruhig draußen, das Licht in den Büros ist aus. Das Boot ist mit zahlreichen Tauen befestigt.
Wenn ich sie jetzt einfach abmachen würde, könnte ich wie Claudius durch halb Europa fahren. Einfach los.
Die Vorstellung, uneingeschränkte Freiheiten zu genießen und jeden Morgen in einem neuen Hafen aufzuwachen lädt zum träumen ein. Diese ungewöhnliche Wohnform zeigt Dir, dass die Möglichkeiten der Heimgestaltung grenzenlos sind.